Meine Urlaubslektüre: Sizilien, Mafia, Superyachten
Außerdem: 3 Podcast-Tipps für den Spätsommer.
Herzlich Willkommen in der BELETAGE! Mein Name ist Manuel Lorenz, und ich schreibe hier unregelmäßig über die Kunst und Kultur, die mich bewegt. Zuletzt ging’s um sechs Bücher, die sich bei mir stapelten, u.a. von Bolaño, Menschik und Büchner.
Diesmal geht’s um … äh … wieder Bücher! Und Podcasts. Und den Sommer.
Ach, der Sommer. Möge er niemals enden. Die einzige Jahreszeit, in der Berlin wirklich schön ist. Leider. Denn so vergisst man allzu schnell, dass spätestens ab November der schlimme, lange, graue, nasse, kalte, hässliche, eklige Berliner Winter einsetzt. Man wird geblitzdingst. Und kaum hat man in jenen Mordor-Monaten den Entschluss gefasst, hier endlich wegzuziehen – in den Süden, in die Sonne, ins Leben –, wird’s wieder schön, und man denkt sich: Ach, der Sommer. Möge er niemals enden …
Damit ihr aber die letzten warmen Tage sinnvoll nutzen könnt, verrate ich euch, was ich in letzter Zeit gelesen habe bzw. was ich gerade lese, um mich auf meinen verspäteten Sommerurlaub vorzubereiten. Zusätzlich gibt’s ein paar Podcast-Tipps.
Urlaubslektüre: Sizilien, Mafia, Superyachten
Im September bereise ich mal wieder einen meiner Sehnsuchtsorte: Noto, an der Ostküste Siziliens, 100 Kilometer südlich von Catania. Das Besondere an der Stadt: Sie wurde ab 1703 komplett im selben Stil gebaut – im sizilianischen Barock, einheitlich aus gelbem Sandstein. Der Grund: Das alte Noto und die gesamte Region wurden 1693 von einem großen Erdbeben zerstört.
Nun, die Stadt, in der es nichts zu tun gibt, als sich in Cafés zu setzen – z.B. ins Café Sicilia, das in der Netflix-Doku-Serie Chef’s Table porträtiert wurde –, ist gar nicht mal der Hauptgrund, warum ich die Gegend so liebe. Aber sie stellt ein optimales Basislager für Tagesausflüge in die Region dar. Vor allem für Ausflüge an die zahlreichen Strände, die sich von Marina di Noto aus gen Süden ziehen. Die meisten von ihnen liegen im Naturschutzgebiet Vendicari (selbst eine Attraktion). Entsprechend naturbelassen und menschenleer sind sie – zumindest in der Nebensaison.
Um mich gebührlich auf Noto einzustimmen, habe ich mir ein paar Bücher besorgt und zwei davon bereits gelesen – eine Neuerscheinung und einen Klassiker.
Bei der Neuerscheinung handelt es sich um Adriano Sacks Noto-Roman Noto. Da kam ich also nicht drumherum. Ob ich ihn mir gekauft hätte, wenn er Palermo oder Agrigent geheißen hätte: Non lo so. Der Autor war mir unbekannt, obwohl er ein Berliner Journalist ist, der mutmaßlich mal im selben goldenen Turm gearbeitet hat wie ich. Und das Coverdesign sprach mich so gar nicht an.1
Aber ich habe das Buch gern gelesen. Es geht viel um – ja – Noto, Sizilien und Italien. Der Protagonist hatte mit seinem Partner dort ein Ferienhaus gekauft. Jener Partner, der so heißt wie der Autor, stirbt überraschend, und der Ich-Erzähler Konrad weiß nicht, was er machen soll. Vielleicht hätten’s ein paar Seiten weniger auch getan. Manchmal hab ich einen Absatz übersprungen, aber überblättert hab ich nichts.
Das zweite Buch: ein Sizilien-Klassiker, Der Tag der Eule von Leonardo Sciascia. Ich hab es mir auf Deutsch zugelegt, da ich gerade zu cotto bin, um es im Original zu lesen (Il giorno della civetta, 1961).2 Sciascia gilt ja als einer der großen italienischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, und Der Tag der Eule ist sein erster und berühmtester Roman. Es geht um die sizilianische Mafia – deren Existenz sowohl die Regionalregierung als auch die Kirche bis dahin bestritten hatten. Ein packendes Buch von anmutiger Sprache, aus dem man viel über Sizilien lernt. Nicht nur etwas für Krimi-Fans (und ein klassischer Krimi ist es ohnehin nicht), sondern auch für Fans von Sizilien, Fans von Italien, Fans von guter Literatur und Fans des Wagenbach-Verlags.
Ungelesen liegt bei mir noch rum: Die Yacht von Anna Katharina Fröhlich. Eine Novelle – eine eher leichte Lektüre. Laut SPIEGEL geht es um „eine junge Frau, die im Hochsommer nach Sizilien reist. Aber das ist nur die äußere Handlung. Fröhlich beschreibt uns ein Paradies, das zur Hölle wird“. Und laut Tagesspiegel führt uns die Autorin „in die dekadente Welt der Reichen und Extravaganten, ans Meer und auf eine Yacht“. Paradies, Hölle, Dekadenz, Extravaganz … gekauft!
Davon inspiriert hab ich mir auch noch Superyachten. Luxus und Stille im Kapitalozän von Grégory Salle zugelegt. Aus dem Klappentext: „Grégory Salle sieht in den riesigen Luxusschiffen den Schlüssel zum Verständnis des gegenwärtigen Kapitalismus. In seinem fulminanten Essay zeigt er, dass Superyachten nicht einfach Symbole des Exzesses sind. Vielmehr sind sie Symbole dafür, dass der Exzess zum Kennzeichen unseres Zeitalters geworden ist.“ Das Buch will ich mir kaufen, seit der Schweizer Literaturwissenschaftler (und Flötist!) Thomas Strässle es im Januar 2023 im SRF-Literaturclub vorgestellt hat.
3 Podcast-Tipps für den Spätsommer, …
… die ihr aber auch noch im Herbst, Winter oder Frühling anhören könnt. Einzige Einschränkung: Sie stellen explizit keine Geheimtipps dar. Aber bei der Flut von Audioinhalten, die täglich über uns hereinbricht, können wir ja nicht jede Folge eines jeden Podcasts hören, selbst wenn wir ihn kennen oder gar schätzen.
Was eine meiner Leidenschaften betrifft, Literatur, gibt es keinen Podcast, den ich uneingeschränkt empfehlen könnte. Der ZEIT-Literatur-Podcast Was liest du gerade? ist in seiner Qualität zu volatil, was sicher nicht an den Hosts liegt, die ich allesamt sehr schätze. Aber dem Format fehlt es irgendwie an Formatierung. Dasselbe gilt in gesteigertem Maße für den FAZ-Bücher-Podcast. Mal interviewt Paul Ingendaay einen Schriftsteller, mal wird die Aufzeichnung eines Gesprächs veröffentlicht, das auf einem Literaturfestival stattgefunden hat.
Aber. Anfang August landete der (FAZ-Bücher-)Podcast einen Volltreffer. Der wunderbare Dietmar Dath spricht mit dem Übersetzer Hannes Riffel über Alan Moores Roman Jerusalem von 2016. Aber mal langsam, denn für alle, die den Podcast nicht gehört haben, klingen diese Handvoll Fakten erst mal überhaupt nicht wie Musik. Dath? Riffel? Moore? Jerusalem?

Fangen wir mit Alan Moore an. Der bedeutendste Comic-Autor aller Zeiten. Watchmen, From Hell, V for Vendetta, The League of Extraordinary Gentlemen. Alles auch verfilmt worden, wobei er, glaube ich, nicht mit jeder Verfilmung gleichermaßen glücklich war. Er sieht – sorry, aber Äußerlichkeiten sind für mich unheimlich wichtig – aus wie ein Prophet auf LSD. Lange Haare, langer Bart. Bisschen, wie wenn Game of Thrones-Erfinder George R. R. Martin sich gehen lassen würde.3 2016 veröffentlichte er seinen Roman Jerusalem, ein 1300-Seiten-Monster, das als unübersetzbar gilt. Eine Art Ulysses, ein Moby Dick.
Womit wir zu Hannes Riffel kommen. Der hat nämlich das Wunder vollbracht und die Schwarte zusammen mit Andreas Fliedner ins Deutsche übersetzt. Wie er dabei vorgegangen ist, erzählt er in dem Podcast. Und auch sonst berichtet er aus seinem spannenden Leben als Übersetzer, Verleger etc.
Denn wenn man sich mit Science Fiction beschäftigt, kommt man an Riffel nicht vorbei. Er gründete und leitete den Golkonda-Verlag, übersetzte u.a. J.R.R. Tolkiens Briefe vom Weihnachtsmann, seit 2023 verantwortet er das Programm im Carcosa Verlag, in dem im Oktober auch seine 1400-Seiten-Übersetzung von Moores Jerusalem erscheint. Aber nicht nur das: Er ist Mitbegründer der Berliner SciFi- und Fantasy-Buchhandlung Otherland im Bergmannkiez, die also bei mir um die Ecke liegt!
Und Dietmar Dath? Wer den Autor und Journalist nicht kennt, sollte ihn einfach mal googeln. Okay, das kann man natürlich zu jeder Person und jedem Thema sagen – dann bräuchte ich diesen Newsletter nicht schreiben. Aber seine bisherige Laufbahn war tatsächlich spektakulär. SPEX-Chefredakteur, Science-Fiction-Romancier, Dramatiker sowie Lyriker, „hyperproduktiven Autor“ (WELT) sowie „Gedanken- und Textgenerator“ (Perlentaucher) und natürlich Journalist und Sachbuchautor, z.B. von der großartigen Niegeschichte. Science Fiction als Kunst- und Denkmaschine.4
Aber hört selbst:
Eine weitere Empfehlung ist die Und was machst du am Wochenende-Folge mit Rocko Schamoni (vom vergangenen Juli). Hat wahrscheinlich eh die Hälfte von euch bereits gehört. Wenn nicht: wunderbar. U.a. spricht er über Heino Jaeger, jenen Künstler und Satiriker, der all die tollen Künstler und Satiriker, die wir so lieben, beeinflusst hat: Olli Dittrich, Helge Schneider, Heinz Strunk und – eben – Rocko Schamoni, der ihm 2021 sogar den Roman Der Jaeger und sein Meister gewidmet hat. Er spricht über Peter Marxen und dessen Jazzlokal Onkel Pös Carnegie Hall, laut Schamoni die „große Schule meines Lebens“ – die Keimzelle, aus der auch Otto Waalkes und Udo Lindenberg hervorgegangen sind. Und natürlich geht’s auch noch mal um den Golden Pudel Club. Alles sehr schön!5
Auch wieder kein Geheimtipp – aber ein Tipp! Die Alles gesagt?-Folge mit Daniel Kehlmann, dem – Tatsache! – erfolgreichsten deutschsprachigen Schriftsteller. Mit vier Stunden ist sie fast schon ein wenig kurz geraten, aber es macht großen Spaß, das Leben des Autors zu ergründen, Hintergründe zu seinem Welterfolg Die Vermessung der Welt zu erfahren etc. Kehlmann spricht auch viel über seine Filmprojekte – also seine Tätigkeit als Drehbuchautor. Und lästert über das deutsche Regietheater ab. Außerdem verrät er, mit welchem Stift er schreibt (Montblanc-Füller) und auf welchem Papier (Midori, gibt’s in Berlin mutmaßlich nur hier), denn die Erstfassung seiner Manuskripte schreibt er von vorne bis hinten per Hand, bevor er sie eigenhändig abtippt. Drehbücher schreibt er direkt in den Computer, via Final Draft). Voilà:
Und jetzt schenkt euch ein Glas aqua frizzante ein, legt eine Zitronenscheibe hinein, setzt an, trinkt und genießt die letzten Stunden dieses Sommers. Auf bald!
Lustigerweise sehen das auch andere Leser so. Auf Amazon schrieb einer von ihnen: „Das sehr grafisch anmutende Cover spiegelt m.M.n. die Dramatik der Insel wieder und auch die verschiedenen Facetten von Konrads Emotionen. Grafisch hätte ich mir jedoch was anderes vorstellen können.“ Ein anderer lobt das Cover hingegen: „Unbedingt erwähnt werden muss auch noch das wunderschöne Cover im Stil des Expressionismus mit seinen leuchtenden Farben – ist mir sofort ins Auge gesprungen und bildet für mich perfekt alles ab, was in diesem Roman steckt.“
Nachdem ich mir Sciascias Tag der Eule vor ein paar Wochen auf Deutsch gekauft hatte, machte ich die Entdeckung, dass ich es auf Italienisch bereits besitze. Allerdings konnte ich nicht mehr erinnern, wie der Band in meine Bibliothek gekommen war. Zuerst dachte ich, dass ich ihn mir einmal in Noto gekauft hatte, 2022, als mir die mitgebrachte Lektüre ausging, Philip Roths Zuckerman Unbound (worüber ich bei Instagram schrieb). (Ich hatte in der Buchhandlung gefragt, ob man mir The Prague Orgy von Philip Roth auf Englisch bestellen könne. Aber Das funktioniert in Italien offenbar nicht so einfach. Der Buchhändler zeigte mir The Human Stain und zwei, drei andere Titel von Roth, die er mir im Original besorgen konnte – die hatte ich aber bereits gelesen.) Aber dann fand ich im italienischen Sciascia eine ICE-Fahrkarte, die als Lesezeichen fungierte. Sie lag zusammengefaltet zwischen der 52. und 53. Seite, datierte auf den 1. Juni 2010 und galt einer Fahrt zwischen Zürich und Freiburg. Damals hatte ich gerade meine Zeit als Stipendiat des Deutschen Studienzentrums in Venedig beendet und war nach Freiburg zurückgekehrt, um meine Doktorarbeit fertigzuschreiben. (Wie grandios ich daran scheiterte, lest ihr hier.) Und auch die Ausgabe verweist auf jenes Jahr: Das Buch wurde im Januar 2010 gedruckt (Tredicesima edizione). Ein drittes Indiz: In meinem Regal steht es neben einer italienischen Fassung von Sciascias Il cavaliere e la morte (Edition: febbraio 2009), dessen Titel auf Dürers Kupferstich Ritter, Tod und Teufel (1513) anspielt, der in dem Werk eine Rolle spielt. (Das Cover der Adelphi-Ausgabe ziert verwirrenderweise ein anderer Dürer-Stich: Das kleine Pferd von 1505 – wahrscheinlich, weil darauf ebenfalls ein Ritter mit Rüstung abgebildet ist und es rechtliche Probleme mit dem eigentlichen Kupferstich gab.) Im ersten Augenblick wusste ich nicht, was das zu bedeuten hatte. Aber dann stellte sich die Erinnerung ein: Ich hatte in Venedig unter anderem über die Figur des miles Christi geforscht, also dem Soldaten Christi, und darüber muss ich zuerst auf den Enchiridion militis Christiani (1503) des Erasmus von Rotterdam gekommen sein und dann auf Dürers Ritter, Tod und Teufel. Dies führte mich wohl zu Sciascias Ritter und der Tod, und im Zuge dessen muss ich mir auch seinen Tag der Eule gekauft haben. Beide standen bis dato nahezu ungelesen in meinem Regal.
Wenn ihr mehr über Alan Moore wissen wollt und Lust auf einen 40-minütigen visuellen Tripp habt, schaut euch die Doku Monsters, Maniacs, and Moore von 1987 an.
Fun Fact: Dietmar Daths Erstling Cordula killt Dich! oder Wir sind doch nicht Nemesis von jedem Pfeifenheini war die erste Veröffentlichung des damals neugegründeten Verbrecher Verlags.
Es gibt hierzu tolle Dokumentationen: Unsere Geschichte: Als Udo, Otto & Co. Stars wurden (NDR) und Heino Jaeger: Look before you kuck (kann man z.B. bei Amazon ausleihen oder kaufen). Außerdem gibt es ein schönes Audio-Interview, das Rocko Schamoni 2021 mit Heino Jaegers langjährigen Weggefährten Joska Pintschovius im Kunsthaus Stade geführt hat. Rough und ungeschnitten. Anlass war die dortige Ausstellung Heino Jaeger. Retrospektive oder wie man das nennt. Ich merk schon: Ich muss da mal gesondert drüber schreiben …
Belli sapere che c'è qualcuno che ama Italia. Come me. 😉🍋
Hello 👋🏼
Ich kenne tatsächlich keinen der hier erwähnten Autoren. Tu mir allgemein auch schwer mit deutscher Literatur. Alles was ich bisher als sinnvoll erachtet habe hatte etwas mit Michael Ende zu tun.
Darf ich dich eine Sache fragen: warum ließt du überhaupt Bücher? und hast du Autoren als Empfehlung, die über Lösungen von Heute sprechen?