Willkommen in der BELETAGE!
Über meine persönlichen Niederlagen, Stuckrad-Barre und diesen Newsletter.
Eigentlich gibt es diesen Newsletter noch gar nicht. Denn: Er hat zwar einen Namen (BELETAGE) und einen Autor (mich), aber er hat noch kein Logo, keinen Banner, keine Beschreibungstexte etc. Und eigentlich mag ich es überhaupt nicht, in solch einem Stadium rauszugehen. Unfertig – unvollkommen.

Aber erstens habe ich aus meiner eigenen Lebensgeschichte gelernt: Ich schrieb einmal an einer Doktorarbeit, etwas mehr als drei Jahre lang, die bis heute unvollendet in einem Dropbox-Ordner liegt, während „alle“ um mich herum längst promoviert wurden. Warum hab ich’s nicht geschafft? Weil ich die perfekte Dissertation schreiben wollte. Das Standardwerk. Das Opus magnum. Und mit zwei, drei Jahren mehr hätt’ ich’s vielleicht geschafft.
Aber a) gibt es halt zwei Sorten von Doktorarbeiten: die perfekten – und die fertigen. Und b) rutschte ich unverhofft in den Journalismus ab und wurde Volontär bei der Badischen Zeitung. Und während ich zu Anfang noch dachte, Ich schreib die Dissertation einfach am Feierabend und Wochenende fertig, merkte ich nach zwei, drei Jahren, in denen ich sehr viele sehr schöne Feierabende und Wochenenden statt in Cafés und Biergärten an meinem Schreibtisch verbracht hatte, dass es an der Zeit war, das Projekt auf Eis zu legen.
Wenn Kollegen mich danach fragten, erinnerte ich nicht mal mehr den Arbeitstitel, und in all den qualvollen Stunden, die ich zur Hälfte dazu gebraucht hatte, um wieder ins Thema zu finden, hatte ich 24 Seiten geschrieben. Das sind zwölf Seiten pro Jahr, ergo eine Seite pro Monat. In diesem Tempo hätte ich noch 30 bis 40 Jahre gebraucht. Mein Doktorvater wäre längst im Ruhestand gewesen – einen neuen Zweitbetreuer hätte ich mir eh suchen müssen, mein erster ist nämlich vor vier Jahren gestorben.
Nun ja, vielleicht irgendwann mal. („Nach 45 Jahren: 72-jähriger Ex-Journalist reicht Dissertation ein – sein Doktor-[Groß-]Vater ist 94 Jahre alt!“)
Zu großer Perfektionismus …
… kann Projekte also im Keim ersticken. Wie heißt es so schön auf Start-up-Deutsch: Done is better than perfect. Und selbst wenn es dir gelingt, den vollkommenen Roadster herzustellen, musst du es immer noch schaffen, dich ans Steuer zu setzen und die PS auf die Straße zu bringen. Auch davon weiß ich ein Liedchen zu singen, das jede Fuck-up-Night bereichern würde, wie ein Blick auf meinen gescheiterten Podcast Selfie mit alles beweist.
Im März 2018 – der heutige Podcast-Superstar Gemischtes Hack war gerade ein halbes Jahr alt – launchte ich als Chefredakteur des jungen Lifestyle-Magazins NOIZZ meinen eigenen Interview-Podcast. Darin wollte ich auf Menschen treffen – und jetzt schreibe ich aus der Pressemitteilung ab –, die mir noch in meiner Selfie-Sammlung fehlten: Macher, Künstler, Influencer. Mit ihnen wollte ich „über das Leben im Hier und Jetzt und auf Instagram“ sprechen. Alles war bereitet, den Audio-Olymp zu erklimmen: Titel, Texte, Hosting, Social-Accounts (inklusive Facebook!) und vor allem ein bis heute unübertroffenes Logo:

Natürlich hatten wir auch 1000 Stoffbeutel mit dem Logo bedruckt, von denen wir die Hälfte auf dem Online-Marketing-Rockstars-Festival verteilten, wo wir den Podcast dann auch starteten – im Rahmen einer Masterclass mit Rapper Massiv, der gerade mit der Clan-Serie 4 Blocks Aufmerksamkeit erregt hatte. Alles lief super. Ich veröffentlichte die erste Folge mit der Rapperin Eunique, dann die zweite Folge mit der Influencerin Frankie Miles. Spotify war so begeistert, dass sie mich sogar in ihr Büro in der Leipziger Straße einluden und meinen Podcast groß featurten.
Aber dann …
… die nächsten Interviewgäste waren bereits angefragt, überrollte mich eine Arbeitslawine. Wir bauten bei NOIZZ die Redaktion um. Ich arbeitete nicht mehr mit den Volontären der Axel-Springer-Akademie, sondern mit einem kleineren, dafür eigens zusammengestellten Team. Die Umstellung raubte mir all den Atem, den ich für den Podcast benötigt hätte. Und so erstarb Selfie mit alles, noch bevor er angefangen hatte, richtig zu blühen, wie eine Knospe, die vom jähen Frost überrascht wird.
Was blieb, war der wunderbare Merch (leider gab es nie Feuerzeuge) – und die ständige, mal aufrichtig, mal neckend gemeinte Frage von Freunden und Kollegen: „Wann kommt denn jetzt die nächste Folge?“ Und wie bei der unvollendeten Diss sieben, acht Jahre zuvor vertröstete ich zu Anfang noch und glaubte, es würde weitergehen, aber irgendwann musste ich der Wahrheit ins Auge sehen und mir selber eingestehen, dass die Antwort sein würde: „Nie.“1
Zum Glück sind mir in meinem Leben auch ein paar Dinge gelungen. Aber darüber zu schreiben, ist langweilig – Niederlagen machen rückblickend mehr Spaß als Lobeshymnen (gar über sich selbst!). Und außerdem geht es hier ja auch darum, die bösen Geister des Gestern zu vertreiben: Exorzismus an der eigenen Vergangenheit.2
Mal sehen, was das hier noch wird.
Was BELETAGE werden soll
Kurz: ein Newsletter über Kultur und Alltag. Einerseits werde ich hier also über all die Bücher schreiben, über die ich stolpere oder die ich gar gelesen hab, über Musik, Filme, Serien, Kunst und was es noch so an Schönem gibt. Andererseits interessiert mich auch der Alltag – das Besondere im vermeintlich Banalen.3
Und während ich hier zuerst allein unterwegs sein werde, kann ich mir vorstellen, dass BELETAGE irgendwann eine Plattform wird, auf der auch Gastbeiträge erscheinen. Falls also auf eurer Festplatte oder in der Cloud etwas rumliegt, was unbedingt raus muss, schickt mir gerne ein Fax. Oder falls ihr auf eine meiner Auslassungen „öffentlich“ Bezug nehmen wollt, dem etwas hinzuzufügen habt – Anmerkungen, Korrekturen oder sonstige Hinweise: Immer her damit!
Soviel zu den Formalitäten.
Und schon wieder denke ich: Das kann doch jetzt noch nicht alles ein, auch wenn es die erste Ausgabe ist. Ich muss doch jetzt schon mal einen Vorgeschmack liefern auf das, was kommen wird. Ein paar erste Lektüren erwähnen inklusive Mikro-Rezension, einen Spotify-Link posten inklusive Höranleitung …
(Für all das werde ich mir übrigens noch alberne Rubrikennamen überlegen: Exlibris, Grammophon, Journal, so was.)
Stuckrad-Barre doing Stuckrad-Barre things
Nun, ich belasse es dabei, einen Aspekt des neuen4 Stuckrad-Barre-Romans Noch wach? zu benennen, den noch kein Rezensent erwähnt hat: die außerordentlich schlechte Druckqualität des Buches. Vielleicht hatte ich auch nur Pech und hab ein Montagsstück bekommen, aber mehrere Kapitelüberschriften sind bei mir regelrecht verwaschen. Fast wie damals in der Schule, wenn man mit dem Füller auf dem Löschpapier rumkritzelte und die Tinte ausfranste. Im Englischen gibt es für diese federartigen Farbverläufe den schönen Terminus feathering.
Solch eine schlechte Druckqualität hab ich zuletzt 2004 bei der Süddeutsche Zeitung Bibliothek gesehen – aber da kostete ein Festeinband inklusive Schutzumschlag nicht 25 Euro, sondern 4,90 Euro (inflationsbereinigt wären das 6,91 Euro, was für ein Hardcover immer noch günstig ist).
Lesen kann man es natürlich trotzdem. Und auch wenn ich noch nicht ganz durch bin: Ich fand die Lektüre bislang lohnenswert. Stuckrad-Barre doing Stuckrad-Barre things. Unterhaltsam, temporeich und gespickt mit den typischen, schönen Stucki-Neologismen. Unjesusig, Bibelverkäufergrinsen, Realitätswindböe, Lebensschiffbrüchige zum Beispiel. Auf fast jeder Seite findet man davon zwei. Und seine präzisen Beobachtungen. Sein phänomenales Gehör für (Umgangs-)Sprache. Seine sympathisch-alberne Bret-Easton-Ellis-Verehrung, die im Buch drei Seiten einnimmt. Die Kapitelüberschrift mit Falco-Referenz (Männer des Westens). Überhaupt das popkulturelle Verweisspiel.
Nur die ins Penetrante gesteigerte Rainald-Goetz’sche Großschreiberei geht ein wenig auf die Nerven – aber daran gewöhnt man sich schnell. Und übermäßig elegant komponiert ist die Geschichte auch nicht.
Aber eigentlich ist das alles auch egal.
Denn eigentlich muss man BSB – wie er sich in Anlehnung an die Backstreet Boys (mal) selbst abkürzt(e) – viel mehr als Entertainer verstehen denn als popliterarischen Thomas Mann. Dafür wählt er halt verschiedene Medien. Oft ist es die Schrift. Aber genauso oft war es die Fernsehmoderation. Angefangen beim MTV-Lesezirkel über seine gran-di-o-se Stuckrad Late Night bzw. Stuckrad-Barre (produziert von Christian Ulmen!) hin zu Stuckrads Homestory. Zwischendurch mal Radio (Enzyklopädings). Aber vor allem natürlich seine Performance-gleichen Lesungen, die anfangs sogar noch als Kassette erschienen.
Mit seinem Podcast Ja Ja, Nee Nee (frei nach Joseph Beuys’ Soundperformance) war er zusammen mit Jasna Fritzi Bauer geringfügig erfolgreicher als ich. Und dann gibt’s natürlich noch seinen Instagram-Kanal, den man tunlichst meiden sollte, wenn Stucki gerade ein Buch gedropt hat. Die PR-Intensität ist dann nur schwer zu ertragen.
Und bevor ich mich noch um Kopf und Kragen schreibe, indem ich etwas zur Kritik sage, dass Stuckrad-Barre sich die Geschichten der Frauen ANGEEIGNET hat, um Aufmerksamkeit FÜR SICH zu erregen und einen Haufen Geld zu verdienen, und dass er mit dem Buch ABBITTE leisten will für zehn Jahre Springer-Komplizenschaft samt FÜRSTLICHER APANAGE, bevor ich also dazu auch noch meinen Senf gebe, verweise ich lieber auf den Podcast 1LIVE Stories, in dem Moderatorin Mona Ameziane Stuckrad-Barre selbst dazu befragt.
So. That’s all für die erste Ausgabe. Hab ich ja seit meiner Ankündigung, einen Newsletter zu schreiben, auch nur zwei Monate für gebraucht. Aber wie war das noch mal: Fail again. Fail better. Und bitte nicht fragen, wann’s weitergeht!
P.S.: Vielen Dank all den Newsletter-Autorinnen und -Autoren, die mich dazu ermutigt haben, das hier anzugehen: Anne-Kathrin Gerstlauer (TextHacks), Isabell Prophet (Das Feierabend-Projekt), Andreas Rickmann (Social Media Best Practice), Martin Fehrensen (Social Media Watchblog) und all die anderen, die mir gerade partout nicht einfallen wollen.
Wie aus all meinen Niederlagen habe ich auch aus dieser einiges gelernt, ganz nach dem Fehlerkultur-Leitspruch „Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better“ (der übrigens nicht aus dem Silicon Valley, sondern von Samuel Beckett stammt). Das wurde mir noch mal bewusst, als ich letztens den ZEIT-Podcast Alles gesagt? mit Maria Lorenz-Bokelberg gehört hab. Sie produziert mit ihrer Podcast-Firma Pool Artists u.a. diesen Podcast und war zum fünften Jubiläum selbst als Gästin eingeladen. In der Folge verrät sie, dass die zwei Hosts Christoph Amend und Jochen Wegner anfangs wie Radiosprecher klangen und sie beide hart feedbacken musste. Genau dasselbe Feedback hatte mir damals Saruul Krause-Jentsch gegeben, die Producerin von Selfie mit alles. (Heute ist sie Podcast-Chefin bei Spotify.) Ich klang hölzern, wie ein Roboter, weil ich dachte, dass jedes Wort sitzen müsse, wie bei einem Print-Interview. Als ich verstanden hatte, dass Podcast-Interviews eher wie echte Gespräche funktionieren – oder andersherum: eher funktionieren, wenn man sie führt wie echte Gespräche –, war es leider zu spät. Die Lernkurve war zwar steil, traf aber jäh auf die Schlucht der Wirklichkeit.
Da fällt mir eine weitere weitaus undramatischere Niederlage ein: die Kolumne, die ich jahrelang schreiben wollte und die daran scheiterte, dass ich mich nicht für einen Titel entscheiden konnte – U-Bahn-Liebe oder I Heart U-Bahn. Ich fuhr damals täglich mit der U-Bahn zur Arbeit, liebte es, hatte so viel zu sagen. Allein über meine ständige Angst, vor eine fahrende U-Bahn gestoßen zu werden. (Es war aber auch die Hochzeit der U-Bahnschubser). Aber auch all die schönen Smartphone-Displays, die ich beobachtete. Liesbes- und Hass-Unterhaltungen, Candy-Crush- und Solitär-Orgien, türkische News, arabisches Snapchat (ja, damals …), Babyfotos und Krisen-Mails. Tagesspiegel, falls du mitliest: Die Kolumne wäre immer noch heiß.
Letztens in Helmut Kraussers Juni. Tagebuch des Juni 1993 gelesen: „Dies verschränkte Nebeneinander von Alltag und All …“ Ganz so hoch werde ich hier nicht fliegen.
Dass ich den Roman hier als „neu“ bezeichne, zeigt, wie lang ich schon wieder an diesem Text sitze, ohne ihn zu beenden. Dauernd kommt irgendwas dazwischen. Wenn’s so weitergeht, veröffentlicht Stuckrad-Barre seinen nächsten Roman, bevor ich meinen Newsletter gestartet habe!
Endlich!! Und Newsletter mit Fußnoten, das könnte schonmal ein Alleinstellungsmerkmal sein ;)
Die Fußnoten sind mega, auch ein Papst weiß die ja zu nutzen. Wenn's nicht geklappt hat mit dem Podcast-Papst werden,dann halt Newsletter Newbie... Go for It! Meine Diss kam nie über ein Exzerpt hinaus :)