Über Heroin, Houellebecq und Till Lindemann
Oder: Wie mein Gehirn mir zweimal denselben Streich spielte.
Immer noch kein Logo, immer noch keinen Banner, keine Beschreibungstexte etc. Aber dafür die erste Ausgabe veröffentlicht und mehr als 60 Abonnenten. Danke für euer Vertrauen darauf, dass ich euch nicht langweilen werde! Ich tue mein Bestes und versuche gleichzeitig, mir treu zu bleiben, mich nicht zu verbiegen.

Denn: Als ich gelesen habe, wer mich alles abonniert hat, spürte ich den sanften Druck, Erwartungen gerecht zu werden. Freunde, Bekannte, (Ex-)Arbeitskollegen, Weggefährten von Anno dazumal. Der oder die findet es bestimmt doof, wenn ich über dies oder jenes schreibe. Langweilt sich. Versteht nicht. Steigt aus. Ich wetzte bereits die Schere im Kopf.
Aber so darf und will ich es nicht angehen. BELETAGE ist immer noch eine Art öffentliches Tagebuch – eine ausführliche Version meines Instagram-Kanals mit wuchtigerer Schwerpunktsetzung und Fußnoten. Ein höchst persönliches Feuilleton. Ich schreibe hier immer noch v.a. für mich selbst (Lüge!). Wem das nicht gefällt, der kann/muss aussteigen (bitte nicht!).
Aber eines verspreche ich euch: Ich werde mich im Eigeninteresse nicht allzu häufig und ausführlich mit mittelalterlicher Modalnotation1 oder Thomas Manns Doktor Faustus beschäftigen.
Außerdem werde ich nicht (mehr) festlegen, wie oft BELETAGE erscheinen wird. (Letztens meinte ich noch auf Instagram: alle zwei Wochen.) Ich weiß, das spricht gegen alles, was Newsletter-Experten sagen. Man sollte einen regelmäßigen Rhythmus haben, am besten immer denselben Wochentag und in etwa dieselbe Uhrzeit. Aber erstens ist das Alleinstellungsmerkmal dieses Newsletters ja gerade, dass er solchen Regeln nicht gehorcht. Er hat keinen Nutzwert, ist viel zu lang, unstrukturiert, hat Fußnoten (haha) und behandelt Themen, die die wenigsten Menschen interessieren (mich, Kultur, diesdas). BELETAGE ist, wenn man so will, ein Anti-Newsletter. Herzlichen Glückwunsch zum Abonnement!2
Zweitens explodieren manchmal Fußnoten3, entwickeln Absätze ein Eigenleben, werden Neben- zu Hauptsachen, kurz: passieren unvorhergesehene Dinge. Und diese will ich nicht unterbinden, möchte ich wachsen und wuchern lassen. Wir sind hier ja nicht in der gedruckten Zeitung, wo es regelmäßig heißt: Kürz den Scheiß von hinten weg!
Ach, und thematische Vorhersagen sollte ich auch keine mehr treffen. Denn kaum verkünde ich auf der re:publica, dass ich in der nächsten BELETAGE-Ausgabe die ganze Geschichte hinter meinem Selfie mit Rocko Schamoni und El Hotzo erzählen werde, hab ich dazu keine Lust mehr bzw. drängen sich andere Themen in den Vordergrund bzw. denke ich mir: Ja, ich kann und sollte da mal drüber schreiben, aber wenn ich das schon mache, dann ganz groß, dann im Kontext meiner allgemeinen Selfie-Manie. Dann auch Cumberbatch, Pietro Lombardi, Brad Pitt, Will Smith und David Hasselhoff. Der große Aufschlag. Der maßgebliche Essay. Und das geht jetzt so auf die Schnelle nicht.4
Worum es heute gehen soll:
Heroin, Houellebecq und Till Lindemann
Wobei das mit dem Heroin gelogen ist. Zumindest ein bisschen, denn um „Junk“, wie Beat-Poet William S. Burroughs das Teufelszeug in seinem (ursprünglich) gleichnamigen Roman nannte – später wurde der Titel zuerst in Junky, dann in Junkie geändert –, geht es mir eigentlich nur indirekt. Und auch die beiden sexbesessenen Ü60-jährigen Kulturbetriebler dienen mir nur als Mittel zum Zweck. Eigentlich geht es mir um ein psychologisches Phänomen, ein Muster, das ich bei mir vor ein paar Wochen erkannt habe, das ich aber zuerst nicht zu benennen wusste.
Ich befragte Chat GPT und googelte mir die Finger wund, hatte nach ein, zwei (oder drei?) Stunden zwar so gut wie alles über kognitive Verzerrungen gelernt – vom IKEA-Effekt, über Pareidolie und Kryptomnesie hin zum Bader-Meinhof-Phänomen –, wusste aber immer noch nicht, wie hieß, was mir widerfahren war. Und zwar Folgendes:
Ich wollte mir einen Kaffee machen, stand von meinem Bett auf, in dem ich gerade Tagebuch schrieb, lief durch den Flur in Richtung Küche, sah auf der Jugendstil-Kommode das halb gelesene Feuilleton der ZEIT, schaute genauer hin und meinte, auf einem halbseitigen Foto Till Lindemann zu sehen. In Wirklichkeit war es Michel Houellebecq. Überschrift: „Machte keine Anstalten, ihre Muschi aktiv zu gebrauchen“.
Ein paar Sekunden später betrat ich die Küche, und mein Blick fiel auf den Boden, wo ein Streifen Alu-Folie lag. Mein erster Gedanke war: Heroin.
Wie konnte das passieren – das mit Houellebecq/Lindemann und das mit der Hero-Alu-Folie? Ganz einfach: durch Priming. Jedenfalls, wenn ich’s richtig verstanden habe.
Unter Priming versteht man laut Wikipedia:
„[…] die Beeinflussung der Verarbeitung (Kognition) eines Reizes dadurch, dass ein vorangegangener Reiz implizite Gedächtnisinhalte aktiviert hat. Die Verknüpfung des Reizes mit speziellen Assoziationen im Gedächtnis, aufgrund von Vorerfahrungen geschieht häufig und zum allergrößten Teil unbewusst.“
Bei Houellebecq liegt die Sache auf der Hand. Die betreffende ZEIT-Ausgabe war erschienen, bevor es um Lindemann laut geworden war. Daher enthielt sie kein Wort zu dem Fall. In den darauffolgenden Tagen sollte sich das ändern. Immer neue Zeuginnen traten auf, immer neue – dreckige, abstoßende – Details wurden an die Öffentlichkeit getragen. Der SPIEGEL hob den Rammstein-Sänger sogar auf sein Cover. Es – er! – wurde zum alles beherrschenden Thema.
Hinzu kommt, dass Michel Houellebecq auf dem Foto auf „meiner“ Zeitungsseite nicht gut zu erkennen ist. Es entstand 2021 auf einer Veranstaltung an der Sorbonne, wo Houellebecq den Roman Vernichten vorstellte. Sein Gesicht wird zur Hälfte von seiner Hand bedeckt. Eigentlich sieht man nur seine strähnigen Haare, die Stirn, ein Ohr und ein Auge. Das Enfant terrible des französischen Literaturbetriebs als Rorschachtest.
An Houellebecqs Pornofilm-Affäre (er hatte sich zuerst beim Sex mit Prostituierten filmen lassen und im Nachhinein bemerkt, dass er doch nicht wolle, dass der Film veröffentlicht würde, dass er den Vertrag unter Medikamenten und Alkohol unterschrieben habe etc.) und sein neues Büchlein Quelques mois dans ma vie (in dem er skandalträchtig vom Leder zieht: „Sau“, „Schuft“, „Schlampe“, „Viper“) hatte ich keinen Gedanken verschwendet. Stattdessen: Lindemann on my mind.
Und das Heroin?
Warum dachte ich beim Anblick des Alu-Folien-Streifens an Heroin?
Weil wir seit ein paar Jahren ein Heroin-„Problem“ in unserem Kiez haben. Mit unserem Kiez meine ich den Bergmann- bzw. Graefekiez, zwischen denen ich wohne. Die schöne Gegend zwischen Kreuzberg und Neukölln; die Häuser und Straßen rund um den Südstern. „Problem“ schreibe ich in Anführungszeichen, weil ich das Ganze, d.h. die Leute, nicht, na ja, problematisieren will. Aber thematisieren will ich es doch, allein, weil’s mich offenbar geprimt hat.
Warum überhaupt Heroin und Alu-Folie? Heroin war doch immer die Droge mit der Spritze! Und warum überhaupt Heroin? Das war doch 70er, Christiane F., Bahnhof Zoo …
Tatsächlich dachte auch ich, dass Heroin doch eigentlich längst out sei.5 Das letzte Mal, dass ich davon gehört hatte, war im Kultfilm Trainspotting (1996), der auf dem gleichnamigen Roman des schottischen Autors Irvine Welsh basiert. Aber Schottland war unendlich weit weg, und Die Kinder vom Bahnhof Zoo ewig her. 45 Jahre, um genau zu sein. Beinahe ein halbes Jahrhundert. Seitdem war drogenmäßig doch so viel anderes passiert. In den 80ern natürlich Kokain. Dann vor allem die sogenannten Partydrogen: Ecstasy, Speed, GHB, Ketamin etc.6 Im Cloud-Rap Xanax und Codein. Und wenn man sich zeitgemäß kaputtmachen will, dann doch eher Breaking Bad-mäßig mit dem bösen Crystal Meth.7
Aber Heroin? Wer spritzt sich denn das noch?
Tja, spritzen tatsächlich immer Wenigere. Denn der Trend geht in Richtung Rauchen.8 Und dazu braucht man Alu-Folie. Blech rauchen oder Blowen heißt das im Jargon. Oder poetischer: den Drachen jagen, was dann schnell ziemlich prosaisch endet. Zum Blowen faltet man ein längliches Stück Alu-Folie so, dass in der Mitte eine Rille entsteht, in die man seinen Heroin-Krümel legt. Den erhitzt man von unten mit einem Feuerzeug; den Dampf atmet man dann mit einem Röhrchen ein.
Die Vorteile: Es kann zu keiner Überdosierung kommen – beim Fixen die häufigste Todesursache. Und dadurch, dass man keine Spritze benutzt, kann es weder zu HIV- oder Hepatitis-Infektion kommen, noch zu Abszessen oder Venenvernarbungen. Institutionen wie die Deutsche Aidshilfe werben deshalb sogar fürs Folienrauchen und zeigen in einem YouTube-Video, wie’s geht.
„Mein“ U-Bahnhof, der U-Bahnhof Südstern, …
… liegt an der Linie U7, die der Tagesspiegel schon 2008 „Berlins längste Drogenmeile“ nannte. Der Berliner Kurier packte ein paar Jahre später noch einen oben drauf und sprach von einer „Todesstrecke“, woraufhin sich die VICE auf eine „Bummelfahrt“ begab, um diese Boulevard-Zuspitzung zu überprüfen (Spoiler: War wohl gar nicht so schlimm).
Eine Station vom Südstern entfernt, geht’s aber noch heftiger ab. Hermannstraße, hier fährt die U8. Gegen die ist „meine“ U7 eine blutige Anfängerin. Wobei es dort viel zu wuselig ist, um der Krassheit eine würdige Bühne zu bereiten. Dasselbe gilt für das Kottbusser Tor. Klar, zig Dealer, unzählige Junkies. Aber die verlieren sich dort zwischen all dem Dreck, Müll, Lärm und Gestank. Im Gegensatz zur Schönleinstraße. „Wer hier aussteigt, lasse alle Hoffnung fahren“, müsste statt der Haltestelle auf der elektrischen Anzeigetafel erscheinen. Eine Dystopie à la I Am Legend. Ein Cormac-McCarthy-Gedächtnis-Ort. „Crack-Roulette“ würde man hier jedes Mal beim Aussteigen spielen, sagte mir eine Bekannte. Raucht mal wieder jemand was, oder (mal) nicht? Meistens Ersteres.
Summa summarum: Es könnte schlimmer sein bei mir, aber es ist schlimm genug.
Manchmal, wenn ich den Aufzug meines U-Bahnhofs benutzen will, sitzt ein Mann drin und raucht gerade H. So wie wenn man in einer Bar aufs Klo gehen will, die Tür zur Kabine öffnet und da schon einer sitzt. „Sorry!“ Letztens öffnete sich der Lift, und ein Junkie humpelte mir entgegen. Sein linkes Bein war bandagiert, sein rechtes übersät von üblen Abszessen. Er konsumierte das Teufelszeug augenscheinlich noch auf die althergebrachte Weise.
Apropos WCs: In unserem Kiez wurden vor ein paar Jahren öffentliche Toilettenhäuschen installiert. Die sind natürlich unbenutzbar, da sie unmittelbar zu Drogenkonsum-„Räumen“ umfunktioniert worden sind. Ab und zu sehe ich den Mann, der die Häuschen putzen muss. Er tut mir unfassbar leid. Ich glaube nicht, dass er dafür angetreten ist, Scheiß-Job hin oder her.9
Mein Schawarma-Mann ist übrigens noch ungehaltener als ich. Er würde „Problem“ nicht mit Anführungsstrichen schreiben, und ihm ist auch egal, ob das arme Teufel Zombies sind. „Verschwinde!“, herrschte er einen Junkie an, als dieser seinen Laden betreten wollte, den Habibi-Imbiss am Südstern. „Die kommen hier immer rein und klauen die Alu-Folien aus dem Müll.“ Anfangs hätten sie ihn noch höflich danach gefragt und er sei freigiebig gewesen. Aber seit er weiß, wozu sie sie brauchen, verweist er sie regelmäßig seines Ladens. „Hier sind Schüler, Kinder“, sagt er und zeigt mit einem Löffel Richtung U-Bahnhofsvorplatz.10
Heroin-Alu-Folie im Altbautreppenhaus
Allein, sie rauchen nicht nur dort. Unser Wohnhaus wird gerade neu gestrichen, und das Baugerüst an seiner breiten Fassade bildet eine Art Fußgängertunnel. Offenbar ein guter Rückzugsort, um Heroin zu konsumieren. Denn im Frühling – Bäume blühten, Vögel zwitscherten – fand ich dort mehrmals Aluminiumfolie mit den typischen Schmauchspuren vor. Und vor ein paar Wochen klingelte aufgeregt mein Nachbar bei mir – ein mit zahlreichen Wassern gewaschener Engländer, der schon seit Nick-Cave-Zeiten in Berlin lebt – und erzählte mir, im Stockwerk über uns sei im Treppenhaus charakteristisch angekokelte Alu-Folie gefunden worden. Man muss wissen, unser Altbau ist in keinem guten Zustand, aber dennoch wirkt hier ein Heroin-„Blech“ so fehl am Platz wie eine leere, zerdrückte Monster Energy-Dose zwischen den Plüschsesseln eines Opernhauses.
Warum erzähle ich das noch mal alles? Ach, ja: die Alu-Folie auf meinem Küchenboden.
Vielleicht werde ich auch einfach alt und spießig, und es wird Zeit, von hier wegzuziehen. Nach Lichterfelde, Dahlem oder Zehlendorf. Warum sollten die Junkies den Platz räumen, nicht ich? Gleiches Bleiberecht für alle. Irgendwo müssen sie ja ihrem Drachen nachjagen. Und dass der neue CDU-Bürgermeister einen Drogenkonsumraum oder ähnliches am Südstern finanzieren wird, glaub ich trotz seiner jüngsten Beteuerung, diesbezüglich aktiv(er) zu werden, erst, wenn ich wieder in den Aufzug steigen kann, ohne dass ein Shore-Suchti mich wegblowt.
Ich befürchte, dass ich bei Alu-Folie noch lang an Heroin denken werde – so wie seit den 90ern bei Oregano an Cannabis. Na ja, solange in meiner Küche kein Crystal Meth gekocht wird: alles gut.
Autobiographische Notiz: Vom WS 2002/03 bis zum WS 2003/04 war ich Tutor des musikwissenschaftlichen Proseminars Einführung in die Paläographie: Modal- und Mensuralnotation an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Und eigentlich wollte ich in dieser Fußnote noch ein wenig mehr als diesen einen Satz dazu schreiben. Aber das Ganze geriet außer Kontrolle. Und nach mehr als 3000 Zeichen, hab ich zuerst Strg + a gedrückt, dann Strg x, dann – in einem neuen Dokument – Strg v. Ich werde euch in einer anderen BELETAGE-Ausgabe von mittelalterlichen Komponisten wie Leonin und Perotin erzählen, vom magnum liber organi, plicae und currentes, vom Umberto-Eco-esken Basler Musikwissenschafts-Ordinarius Wulf Arlt und meiner Mentorin Silvia Wälli sowie ihrem allzu frühen Tod.
Alle zwei Wochen wäre dieser Newsletter tatsächlich zu viel. Wer will so was so oft lesen? Wir haben doch alle keine Zeit! Mir geht das ja schon wöchentlich mit der ZEIT so. Oder monatlich mit dem REPORTAGEN-Magazin. Alles wunderbar, aber wann zur Hölle soll ich mir das alles geben? Neben all dem anderen – und dem eigenen Schreiben? Den Tagesspiegel Checkpoint hab ich deshalb abbestellt. Zu oft zu viel. Das krieg ich nicht hin. Im Gegensatz zu Kevin Schramms Innovations-Newsletter. Der erscheint zwar auch jeden Tag, aber dafür immer nur mit einem kurzen Absatz. Ein Nano-Newsletter! Den schaff ich gerade noch so.
Apropos Fußnoten: Mir ist zugetragen worden, dass es nervt, innerhalb einer Mail dauernd runter- und wieder hochscrollen zu müssen. Denn streng genommen handelt es sich bei den vorliegenden Anmerkungen nicht um Fuß-, sondern um Endnoten. Und die sind bekanntermaßen der Endgegner einer jeden Leselust. Das Gute: Meine Fuß-/Endnoten könnt ihr beruhigt am Ende lesen. Hebt sie euch für später auf. Denn die meisten von ihnen sind in sich abgeschlossen und funktionieren auch ohne Zusammenhang. (Oder ihr druckt euch den Newsletter aus und legt die Endnoten neben den Haupttext. Aber dann will ich ein Foto davon haben!)
Hier schon mal vorab ein Geständnis: Ja, ich bin Selfie-süchtig. Gar nicht so sehr, um mich mit fremdem Ruhm zu schmücken – 15 Sekunden geliehener Fame –, sonst würde ich auf allzu umstrittene Personen wie BILD-Kolumnist Franz Josef Wagner, Franziska Giffey und Kai Wegner verzichten. Und mit Trash-Schwergewichten wie Hans Entertainment, Pietro Lombardi und Sophia Thomalla hätte ich mich sonst auch nicht abgelichtet. Nein, es geht mir um was ganz anderes. Einerseits um ein Experiment: Was macht ein Selfie mit mir selbst – mit meiner Selbstwahrnehmung? Wie fühl ich mich währenddessen, aber auch davor und danach? Was macht ein Selfie mit seinen Betrachtern (Likes, Kommentare, Real-Life-Reactions)? Andererseits befriedigen Selfies auch meine journalistische Neugierde: Wie tickt die (zumeist prominente) Person, mit der ich mich fotografieren will? Was find ich da in jenen 3 bis 30 Sekunden heraus, die mir beim Selfie bleiben? In der Reaktion auf meine (An-)Frage, den ein, zwei Wörtern oder Sätzen, die währenddessen und/oder danach ausgetauscht werden? (Zwischen-)Fazit: irgendwann in BELETAGE.
Vielleicht war die Hardcover-Neuauflage von Jörg Fausers Kult-Roman Rohstoff bei Diogenes im Jahr 2019 ein erster Hinweis auf das Heroin-Revival. Wobei ich nicht weiß, ob die Mitarbeiter:innen des ehrwürdigen Schweizer Verlags die richtigen Ansprechpersonen sind, wenn es um aktuelle Drogentrends geht. Fauser beschreibt in dem Roman, der 1984 publiziert wurde, eindringlich, was er selbst erlebt hatte: Abhängigkeit von Heroin (zwischen 1967 und 1972). Es geht allerdings auch noch um eine andere Droge: den allseits bekannten König Alkohol. (Wie gern hätte ich jetzt hier die Funktion, in einer Fußnote eine Fußnote setzen zu können, dann könnte ich mich nämlich über Jack Londons autofiktionalen Roman König Alkohol auslassen, der im englischen Original den langweiligen Titel John Barleycorn trägt. Der Untertitel ist schon besser: Alcoholic Memoirs. In einer Fußnote zur Fußnote zur Fußnote könnte ich erläutern, wie der deutsche Übersetzer auf seinen schlagenden Titel kam. Oder ich könnte all das auch einfach sein lassen.)
Das „etc.“ in meiner Aufzählung verweist auf ihre Unvollständigkeit. Was Partygänger in den Nullerjahren (bereits) alles konsumierten, geht aus dem Musikvideo E Talking des belgischen Elektro-Duos Soulwax hervor. Hier wird ein ganzes Drogen-ABC buchstabiert, von A wie Acid bis Z wie Zoloft. Was fehlt: Speedball, eine Mischung aus Heroin und Kokain, das Mezzo Mix der harten Stoffe – und Todesursache nicht weniger Stars (u.a. John Belushi, Chet Baker, Jean-Michel Basquiat, River Phoenix und Philip Seymour Hoffman). Seinen wohl prominentesten Auftritt hatte der Drogencocktail in Stanley Kubricks grandioser Traumnovellen-Adaption Eyes Wide Shut (1999). Zu Anfang besucht darin der New Yorker Arzt Bill Harford (Tom Cruise) mit seiner Frau Alice (Nicole Kidman) die glanzvolle Weihnachtsfeier seines reichen Privatkunden Victor Ziegler. Während der Party führt Zieglers Assistent Bill in ein großes, luxuriöses Badezimmer. Dort wartet Ziegler halbnackt auf ihn, vor ihm liegt auf einem scharlachroten Sessel eine splitternackte Frau. Sie ist benommen, und Ziegler setzt Bill sofort in Kenntnis: „She was shooting up, and she had a bad reaction […]. Speedball or snowball, whatever the hell they call it.“ Bill untersucht die Frau, die (laut Ziegler) Mandy heißt, spricht sie an, bringt sie dazu, ihre Augen zu öffnen. Am Ende sind alle wieder angezogen, Mandy fühlt sich besser, Bill spricht ihr ins Gewissen: „You are a very, very lucky girl, you know that? […] You’re gonna be okay this time. But you can’t keep doing this […]. You’re gonna need some rehab.“ Wie vieldeutig diese Szene ist, zeigt der britische Filmkritiker Rob Ager in seinem Video Mandy’s Secret. Und eher unabsichtlich zeigt er auf, dass die Episode ihren Schatten bis ins Jahr 2017 und in die Gegenwart vorauswirft: Weinstein, MeToo, Till Lindemann. Denn auch wenn Mandy höchstwahrscheinlich eine Prostituierte ist, könnte der Sex, den der superreiche, mächtige Ziegler mit ihr hatte, uneinvernehmlich gewesen sein, nämlich auf (Quasi-K.o.-)Drogen.
Opium bringt Opi um – dieser Spruch, den wir in Grundschulzeiten unwissend über den Schulhof riefen, einfach, weil er so lustig klang, wird in den USA seit Mitte der 90er Jahre gewissermaßen Wirklichkeit. Dort grassiert nämlich seit zwei, drei Jahrzehnten eine Opioid-Krise, die laut SPIEGEL die Crack-Epidemie der 80er Jahre in den Schatten stellt und mittlerweile die häufigste Todesursache bei US-Amerikanern zwischen 18 und 45 Jahren ist. Ausgelöst wurde sie durch das Schmerzmittel OxyContin, das der Pharma-Gigant Purdue 1995 auf den Mark brachte und aggressiv bewarb – u.a. mit der Lüge, dass, wie es in einem Fernseh-Spot hieß, „weit weniger als ein Prozent“ der Patienten davon abhängig würden. Ärzte verschrieben es freizügig, gefühlt die halbe Nation wurde süchtig nach den weißen Tabletten. Immerhin flog der Schwindel auf, das Unternehmen wurde mannigfaltig verklagt, meldete Insolvenz an, wird Milliarden zahlen müssen. Eine Story perfekt für Hollywood, weshalb die Streamingplattform Hulu sie auch als Mini-Serie verfilmt hat (in Deutschland ist Dopesick auf Disney+ zu sehen). Leider ging etwas zeitversetzt – spätestens seit 2006 – ein weiteres Opioid durch die Decke: Fentanyl, 50 Mal stärker als Heroin. Zuletzt soll Rap-Legende Coolio (u.a.) daran gestorben sein. Übrigens, für einen Kultur-Newsletter wie BELETAGE nicht unwesentlich: Die Milliardärsfamilie hinter Purdue Pharma bzw. OxyContin, die Sacklers, förderte mit ihrem Blutgeld im großen Stile Kunst. Entsprechend tauchte ihr Name in zahlreichen namhaften Institutionen auf: Guggenheim Museum, Metropolitan Museum, Serpentine Gallery, National Gallery, Vitoria and Albert Museum, Royal Academy, Tate Galleries, British Museum, Royal Opera House, National Theatre, Shakespeare’s Globe Theatre, Louvre, Jüdisches Museum Berlin etc. pp. Dies ist großteils passé, v.a. dank der Fotografin Nan Goldin, die selbst OxyContin- und Fentanyl-süchtig war und daraufhin (2017) die Aktivistengruppe PAIN (Prescription Addiction Intervention Now) gründete, um gegen das Sackler’sche Mäzenatentum vorzugehen. Die Oscar-Preisträgerin Laura Poitras hat darüber wiederum die Doku All the Beauty and the Bloodshed (2022) gedreht.
Das trifft zumindest für meinen Kiez zu – und für vier Frankfurter Drogenkonsumräume, wie eine Untersuchung von Meryem Grabski vom Institut für Suchtforschung der Universität Frankfurt zeigt. Die Frankfurter Rundschau (22.5.2023) fasst ihre Ergebnisse wie folgt zusammen: „In den zurückliegenden Jahren habe sich ein Wandel vom intravenösen zum inhalierenden Konsum vollzogen. 31 Prozent der Konsumvorgänge in den Räumen waren 2022 nicht-intravenös. Meist werden Heroin und/oder Crack beim nicht-intravenösen Gebrauch konsumiert. Die Daten zeigen auch, dass der Crack-Konsum zugenommen habe. Umgekehrt sei der intravenöse Konsum vor Ort zurückgegangen.“ Crack ist laut dem Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg auch in Berlin auf dem Vormarsch. In Neukölln liegt Heroin allerdings mit 63 Prozent immer noch an erster Stelle.
Apropos Scheiß-Job: Ende Juni 2023 fragten sich Nina Pauer und Lars Weisbrod im ZEIT-Feuilleton-Podcast Die sogenannte Gegenwart „Ist Klo putzen Horror oder Luxus?“ und besprachen einerseits das (allerdings nicht brandneue) Phänomen der Putz-Influencer a.k.a. Cleanfluencer. Andererseits diskutierten sie über die gerade in der edition suhrkamp erschienene Studie Im Minus-Bereich. Reinigungskräfte und ihr Kampf um Würde von Jana Costas, Professorin für Personal, Arbeit und Management an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder. Darin schließt sie sich einem Reinigungsteam am Potsdamer Platz an, die Büros und Luxusapartments putzen. Der Verlag schreibt: „Jenseits aller Klischees ist diese Arbeit für sie auch eine Quelle des Stolzes.“ Die Süddeutsche Zeitung resümiert: „[…] eine wissenschaftlich saubere Arbeit, ein größerer Erkenntnisgewinn bleibt jedoch aus.“
In Folge 44 seines Erfolgs-Vlogs Shore, Stein, Papier erzählt YouTuber und Ex-Junkie $ick, dass Imbissbudenbesitzer an Drogen-Hotspots in Sachen Alu-Folie genau Bescheid wüssten. „Die lachen dich aus. Die schicken dich weg. Die wissen genau, was du damit willst.“ Dann verrät er, wie er um zwei Uhr morgens dennoch an das heiß begehrte Utensil kam: Kebab bestellen und den „Döner-Mann“ bitten, ihn (wegen des langen Heimwegs) dreimal in Folie einzupacken. „Die oberen zwei Schichten sind sauber. Die sind nicht vollgeschmiert mit Fett und Soße. Und dann kommt der Döner in die Tonne, wenn ich kein’ Bock auf den Döner hab.“ Der letzte Satz ist schlecht gealtert. Bei Kebab-Preisen von 7 Euro – Stichwort „Dönerflation“ (taz) – würde heute wohl selbst $ick keinen Döner mehr in die Tonne kloppen.