Foto-Journal #1: Herrenlose Sprühdosen und bedingungslose Hertha-Liebe
Besondere Berlin-Momente aus den vergangenen zwei Monaten (Januar und Februar 2025).
Herzlich willkommen in der BELETAGE. Mein Name ist Manuel C. Lorenz, und ich schreibe hier unregelmäßig über Kunst und Kultur, die mich bewegt. Zuletzt hab ich über den originalen Cherry Pie aus David Lynchs Kult-Serie Twin Peaks geschrieben. Diesmal wird’s persönlicher …
Die beste Fotokamera ist die, die du dabei hast, lautet eine alte Journalistenweisheit. Der Satz hat sich mir v.a. deshalb eingeprägt, weil ich seither mit meinem iPhone unzählige Fotos geschossen hab, während meine gar nicht mal so schlechte Fujifilm-Kamera genauso häufig zum Einsatz kam wie mein Montblanc-Füller und meine Lackschuhe: nur zu ganz besonderen Anlässen.
Das iPhone hab ich halt immer dabei, wenn gerade irgendwas passiert – wenn ich mal wieder zufällig über etwas stolpere, das mich erstaunt oder bewegt.
Wie oft hab ich meine Fujifilm eingepackt und bin losgezogen – mit dem Ziel, endlich mal Fotos mit meiner professionellen Kamera zu machen. Das Ergebnis: Nichts oder nur Halbgares. Einzigartige Augenblicke lassen sich offenbar nicht erzwingen.
Manchmal, wenn ich etwas vorfinde, das ich fotografieren will, denke ich: Ha! Hier komm ich morgen wieder her – mit meiner richtigen Kamera! Meistens mach ich’s dann doch nicht. Was ich daraus gelernt hab: Schieß das Foto erst mal mit dem iPhone, dann hast du’s wenigstens im Kasten. Qualität hin oder her.
Worum es mir bei meinen Fotos geht
Ich muss dazu sagen, dass ich als Fotograf (darf ich mich so nennen? Na ja, ich schieße halt Fotos) einen pragmatischen Zugang zur Fotografie pflege. Denn obwohl ich einerseits „richtige“ Fotokunst liebe, schätze, kenne und sammle, strebe ich bei meinen Fotos nicht nach derselben Perfektion, die ich in den Bildern von Herbert List, Jonas Bendiksen, David Alan Harvey, Stefanie Moshammer, Ute Mahler und vielen anderen sehe.
Meine technischen Fertigkeiten sind okay. Ich habe sie mir als Journalist angeeignet und als Autodidakt verfeinert. Dennoch gibt es sicherlich unzählige Hobbyfotografen, die besser mit ihrer Kamera umgehen können als ich und Virtuosen in Sachen Belichtungszeit, Empfindlichkeit etc. pp. sind. Auch kennen sie sich besser mit Bearbeitungsprogrammen wie Lightroom aus und verbringen Ewigkeiten mit der Optimierung ihrer Bilder.
Dazu hab ich schlicht keine Zeit. Und meine Fotos funktionieren auch anders. Sonnenuntergänge sind schön, überlasse ich aber anderen.
Mir geht es um die Situation. Zufälliges, Erstaunliches, Ungesehenes, manchmal Unwiederbringliches. (Na ja, mach mal halblang.) Manchmal fotografiere ich Dinge oder Situationen auch einfach, um sie nicht zu vergessen. Dann ersetzt das Foto für mich einen schriftlichen Tagebucheintrag.
Am Spannendsten finde ich Objekte, die sich verlaufen zu haben scheinen – die streng genommen fehl am Platz sind. In ihrem neuen Umfeld verändern sie ihre Bedeutung – oder die Bedeutung des Umfelds. Es entsteht Reibung, Spannung, Energie. Etwas Neues wird geboren. (Schon wieder gehen die Gäule mit mir durch, entschuldigt, gleich wird es wieder banaler. Nur noch ein Satz, versprochen.) In der Kunst spricht man vom Objet trouvé.
Konkret:
Im urbanen Kontext (in dem ich mich bewege) handelt es sich dabei oft um Müll, Kaputtes, mutwillig Zerstörtes, Beschmiertes, aus Spaß oder aus welchem Grund auch immer Verändertes, Vergessenes, Verlorenes, Zurückgelassenes, Botschaften aus Welten, die nicht meine sind (und gleichzeitig sind sie es doch, denn sonst könnte ich sie ja nicht fotografieren!).
Verzeiht also, wenn meine Fotos manchmal eher wie Schnappschüsse anmuten. Wenn sie banale Dinge abbilden – manchmal vielleicht sogar Müll. Es sind Momentaufnahmen, die etwas in mir bewegt haben. Im besten Fall tun sie das bei euch auch. Wenn nicht gilt hier die alte Internetregel: Bitte scrollen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen.
Samstag, 4. Januar 2025
Spaziergang an einem der ersten Tage des neuen Jahres. Die Welt fühlt sich noch unverbraucht an, als hätte sie sich in der Nacht vom 31.12. auf den 1.1. gehäutet. Sie trägt noch keine Narben, keine Schrammen. Nur die Überbleibsel der Silvesternacht liegen auf ihrer Oberfläche.
Und eine Kiste mit Sprühdosen – und zwar solchen, die man nicht benutzt, um sein Fahrrad zu lackieren. MTM Madmaxxx, Loopcolors, Belton. Und kurioserweise auch noch ein leeres Weizenbierglas.
Ich schaue mich um – kein Graffiti weit und breit. Wer hat die Kiste hier abgestellt? Doch wohl keine Privatperson, die keine Lust hatte, die Dosen regulär zu entsorgen. Das erste Mysterium des Jahres.
Donnerstag, 9. Januar 2025
Genauso schön, wie den Weihnachtsbaum zu kaufen, aufzustellen und zu schmücken, ist es, ihn vom Balkon aus auf die Straße zu schmeißen. Längst nadelt er, und Weihnachten erinnert viel zu sehr ans gerade vergangene Jahr. Zeit – und Platz! – für Neues!
Die ausrangierten Weihnachtsbäume säumen in den ersten Wochen des Jahres sämtliche Berliner Bürgersteige, bis die Stadtreinigung sie irgendwann abholt. Kleine, große, dicke, dünne, kaputte, intakte, vertrocknete, noch saftige, tief grüne, längst braune.
Die Exemplare auf dem Foto liegen auf der Rückseite von einem der berühmten Plattenbauten an der Leipziger Straße. Es sieht fast so aus, als hätte ein Bühnenbildner die Bäume arrangiert. Ihr teils noch sattes Grün hebt sich kräftig vom grauen Betonhintergrund ab.1 Schade, dass hier bald wieder kalte Ödnis herrscht.
Samstag, 11. Januar 2025
Im KaDeWe Neuköllns (das eigentlich gerade noch so in Kreuzberg liegt), dem Karstadt am Hermannplatz (das eigentlich seit 2019 eine Galeria-Filiale ist), hat ein Edel-Lidl eröffnet. Der Rest ist so mittelmäßig gut sortiert und gleichförmig wie eh und je.
Ich muss auf Toilette, aber da es nach 18 Uhr ist, hat das Dachterrassenrestaurant inklusive Klo geschlossen.2 Also ab zu den anderen sanitären Einrichtungen im Untergeschoss.
Die Benutzung kostet mittlerweile 80 Cent, aber dafür werde ich mit Fresken belohnt, die mein Schmierfinkenherz höher schlagen lassen. Ich liebe ja die Aufkleber- und Kritzel-Collagen an solchen Orten.
„Erfolg ist vergänglich, meine Liebe bedingungslos“, steht auf einem Hertha-BSC-Sticker. Grandios. Die Übertragung romantischer Liebe auf einen Fußballverein, auf dessen Trikot in den vergangenen Jahren so betörende Namen wie TEDi, CrazyBuzzer und CheckCars24 standen. Da bekomme selbst ich Schmetterlinge im Bauch.3
Sonntag, 12. Januar 2025
Vier Sphingen bewachen die Brückenköpfe der Bismarckbrücke im Grunewald. Meine Eltern wohnen in der Nähe; auf dem Weg zurück nach Kreuzberg will ich mir noch mal die einstige Feuchtwanger-Villa anschauen und treffe auf diese sandsteinernen Fabelwesen. Geschaffen hat sie 1897 der Bildhauer Max Klein. Gründerzeitliches Frauenideal meets ägyptisches Mischgeschöpf.
Der spätpubertäre blaue Sprühfleck auf der Brustwarze reißt mich aus meinem wilhelminischen Traum, in dem ich mit Tropenhelm und Spaten bewaffnet (kein gutes Wort in diesem Kontext) schweißgebadet im Wüstensand buddle.
Die vandalisierte Sphinx erinnert mich an ein wunderbares Bild von Stefanie Moshammer, einer meiner Lieblingsfotografinnen, Warm Heart (2020), bei dem ebenfalls eine halbnackte Frauengestalt grell besprüht wurde. Dieser eigentlich ignorante Akt verschafft den überkommenen Bildnissen vitale Gegenwärtigkeit.
Mittwoch, 29. Januar 2025
Im Januar ist die Gegend um den ehemaligen Checkpoint Charly besonders trostlos. Die Touristen fliehen vor der Kälte in den schäbigsten McDonald’s Berlins, der Currywurst-Verkäufer starrt auf das DDR-Wappen an der Fassade gegenüber.
Eine der wenigen Attraktionen (neben dem Nachbau der ersten US-amerikanischen Kontrollbaracke) ist das Schild mit der Aufschrift „Sie verlassen den amerikanischen Sektor“ in allen Sprachen der Besatzungsmächte. Bezeichnenderweise leuchtet direkt daneben knallrot eines der bekanntesten Fastfood-Akronyme der Welt.
Dahinter – entlang der Zimmerstraße – endete die Freiheit, verlief die Mauer. Mich bewegt es jedes Mal aufs Neue, wenn ich die Pflastersteinen sehe, die ihren einstigen Verlauf markieren. Was für ein Glück wir haben, hier einfach die Straße überqueren zu können.
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Donnerstag, 6. Februar 2025
Der Fernseher steht schon seit ein paar Tagen neben unserer Haustür. Letzte Nacht hat jemand das Kunstwerk vollendet – mit dem berühmten Spruch des großen Musikers und Dichters Gil Scott-Heron. In Zeiten von Streaming, YouTube und Twitch mutet er so museal an wie der Röhrenfernseher meiner Kindheit mit seinem stolzen Dutzend an Sendern.
BILD, BamS und Glotze – in der Ära Gerhard Schröders reichte das zum Regieren noch aus. Heutzutage erreichen Politikerinnen wie die Linken-Chefin Heidi Reichinnek eine halbe Millionen Abonnenten auf TikTok. Und dass die AfD auf der Plattform so stark performt wie keine andere Partei, ist längst kein Wahlkampfgeheimnis mehr. Entsprechend konzentrieren sich Putins Trolle (nachweislich seit 2013) insbesondere auf Soziale Medien. Twitter wurde 2022 sogar von einem von ihnen gekauft …
Wie würde der Spruch also heute heißen? „The revolution will not be posted on social media“? Klingt ungelenk und ergibt auf einem Flatscreen keinen Sinn. Wäre aber stimmiger.
Mittwoch, 12. Februar 2025
Dieses Jahr komm ich auf den Berliner Winter überhaupt nicht klar. Der Regen, die Kälte – was soll das?
Ich scheine mit meinem Gefühl nicht alleine zu sein. Die Maske in einem Auto unweit der Friedrichstraße blickt auch nicht gerade glücklich drein. Wem gehört dieses Gefährt? Einem Bankräuber, der Mittagspause macht? Einem Mitglied des Hackerkollektivs Anonymous, das im Internetcafé World of Warcraft zockt?
Keine Ahnung. Sicher ist lediglich: V steht im Februar nicht für Vendetta, sondern für verdammte Kälte.
Montag, 17. Februar 2025
Ich gehe im Bergmannkiez spazieren und verirre mich in einen Hinterhof. Plötzlich stehe ich vor riesigen Eistüten. Ein halbes Dutzend steht dort Spalier. Waffel, Kugeln, Sahne. Alles in hünenhaften Dimensionen.
Sie halten Winterschlaf – wie meine Lebenslust. Wann werden sie wieder zum Einsatz kommen? Ich höre einen Vogel zwitschern – eine Kohlmeise. Eine Verheißung?
Es kann nicht mehr lange dauern, bis es endlich wärmer wird. (Na ja, Frühlingsanfang ist der 20. März …)
Freitag, 21. Februar 2025
Das „Ding“ heißt in Wahrheit DAfFNE und ist die Auszeichnung der Deutschen Akademie für Fernsehen (DAfF). Wir haben sie für unsere 3sat-Sendung Bosetti Late Night gewonnen, die ich als Executive Producer betreue. Gemeinsam mit uns nominiert war u.a. die Netflix-Show Kaulitz & Kaulitz, ein Unterhaltungsbollwerk, gegen das wir eigentlich nur verlieren konnten.
Im Vergangenen Jahr lief alles glatt für uns: fantastische Sendungen, tolle Gäste – und natürlich der Grimme Preis sowie der Deutsche Fernsehpreis. Sollte es wirklich so weitergehen? Irgendwie glaubte ich nicht daran.
And the winner is … Ja, es waren wir. Wie schön. Und vor allem ein Beweggrund mehr, weiterhin all unser Herzblut in dieses Format zu geben.
That’s all, folks! Ich hoffe, mein kleines Foto-Tagebuch hat euch gefallen – ich wollte es schon viel eher verschicken, aber dann kam mir mal wieder das Leben dazwischen. Ihr kennt das.
Gerade lese ich parallel einige spannende Bücher. Vielleicht berichte ich in meinem nächsten Newsletter davon. Oder von den Filmen, die ich gerade gesehen hab. Oder, oder, oder. Es passiert gerade so viel, worüber ich gerne schreiben würde. Allein, the dilemma is real: Wenn du lebst, kannst du nicht schreiben, und wenn du schreibst, kannst du nicht leben.
Wenn ihr mein Erlebtes, mein Geschriebenes gerne lest, wenn ihr euch jedes Mal darüber freut, meinen Newsletter in eurer E-Mail-Inbox vorzufinden, würde es mich freuen, wenn ihr anderen davon erzählt. „Da ist dieser Typ, der hat diesen Newsletter. BELETAGE. Wäre was für dich! Kommt auch nicht allzu oft. Nervt nicht. Abonnier mal.“ Vielen Dank für eure Unterstützung.
Gehabt euch wohl!
Euer Manuel
Die Betonfassade ist eine Story für sich – bzw. höchst kulturgeschichtsträchtig. Sie ist nämlich das Ergebnis jenes in den 1970er Jahren entwickelten „Betonformsteinsystems“, das industriell hergestellte Kunst am Bau ermöglichen sollte und auf der Vorderseite der Gebäude noch prägnanter zum tragen kommt.
Zu meinem Erschrecken musste ich feststellen, dass das Restaurant am 18. Januar komplett dicht gemacht hat!
Wirklich überzeugend war in der wechselhaften Trikotsponsor-Historie von Hertha BSC nur die Saison 1985/1986. Da prangte auf der blauen Brust das Logo des Berliner Spaßbades Blub.