Diese Weihnachtsmusik höre ich jedes Jahr
Von Händel und Bach über Christmas-Jazz hin zu klirrendem Winter-Techno: meine 10 Lieblings-Weihnachtsalben.
Es war die richtige Entscheidung gewesen, am 3. Advent zu Hause zu bleiben. Ich hatte einen Arbeitskater, hing auf meinem flaschengrünen Samtsofa rum, schaute, was am Abend so los war und stolperte über ein Konzert des Barockexperten Reinhard Goebel. Dieser sollte in der Philharmonie mit der Karajan-Akademie ein Programm aufführen, das deutscher, italienischer und französischer Weihnachtsmusik des Barocks gewidmet war.
Ich öffnete online das Programmheft und las mich fest. Und war sofort so angezündet, dass ich beschloss, 1. alles nachzurecherchieren – via Wikipedia, Spotify und Co. –, was im Text nur angedeutet war, und 2. einen Newsletter mit meinen Lieblings-Weihnachtsalben zu schreiben. (Was 3. bedeutete, dass ich zu Hause blieb, statt zum Konzert zu gehen. Aber was gibt es Schöneres als die Weiten des Internets und die Leere eines Blattes, das beschrieben werden will.)
Ihr ahnt es schon: Diese Playlist enthält weder Last Christmas, noch All I Want For Christmas Is You oder Santa Baby. Dazu braucht ihr mich nicht. Dazu reicht es, Hitradio Ö3 einzuschalten. Und ehrlich gesagt, komm selbst ich bei manch einem Album, das ich hier vorstelle, an meine Grenzen, denke mir, muss ich mir das wirklich geben, hunderte Jahre alte Musik – im schlimmsten Fall sogar auf Latein?
Die Antwort ist einfach: Man muss gar nichts, nur sterben. (Sorry.) Aber wenn es ein, zwei, drei Wochen gibt, wo man sich auf so was einlassen kann, wo man die Muße hat, das Mindset (sorry), dann jetzt in der seligen Weihnachtszeit. Auf jeden Fall wird man nicht ganz so doof angeschaut, wenn man in Jugendzimmerlautstärke barocke Pauken und Trompeten pumpt.
Und: Gaaanz so einseitig bin ich dann auch wieder nicht. Denn wenn ihr bis zum Ende durchhaltet, werdet ihr mit komplett abgefahrenem Shit à la Jazz und – ja! – Techno belohnt.
Hören dürft ihr die Weihnachtsmusik übrigens mindestens bis zum 6. Januar, je nach Auslegung sogar bis zum 2. Februar! Denn am 2. Februar, an Mariä Lichtmess, 40 Tage nach der Geburt Christi, brachten Maria und Josef ihren Sohn nach jüdischer Vorschrift in den Tempel. „Bis dahin“ – ich zitiere katholisch.de, die müssen’s wissen – „galt Maria nach der Geburt als ,unrein‘ – weshalb das Fest bis zur Liturgiereform 1969 den für Missverständnisse anfälligen Namen Mariä Reinigung trug.“ Auf dieses Datum geht übrigens auch der Brauch zurück, den Weihnachtsbaum erst an jenem Tag zu entsorgen.
Heutzutage geht die Weihnachtszeit in der evangelischen Kirche bis zum 6. Januar (Epiphanias bzw. Erscheinung des Herrn, auch Dreikönigsfest genannt), bei den Katholiken bis zum darauffolgenden Sonntag, was zwischen den 7. und 13. Januar fällt.
Los geht’s!
1. Johann Sebastian Bach: Weihnachtsoratorium
Der absolute Oberklassiker, den man aber streng genommen jetzt noch gar nicht hören darf! Bach komponierte die sechs Kantaten, aus denen das Oratorium besteht, nämlich für x, y und z. Mir ist das aber egal, ich bin da undogmatisch und habe mir ein eigenes Timing zugelegt: Am 1. Advent leg ich die 1. Kantate auf, am 2. die 2. etc. Die letzten beiden Kantaten gibt’s dann zwischen Weihnachten und Neujahr.
Entscheidender als das Timing ist aber natürlich die Interpretation. Und da ist es gar nicht so leicht, aus den zig wunderbaren Aufnahmen, die es mittlerweile gibt, die „richtige“ auszuwählen. Ich knöpfe mir daher stets eine andere vor. Dieses Jahr habe ich mal wieder zu René Jacobs gegriffen, der „sein“ Weihnachtsoratorium 1996 mit der Akademie für Alte Musik Berlin und dem RIAS-Kammerchor aufgenommen hat. Anregendes Changieren zwischen schnellen Tempi und nachdenklichem Innehalten sowie die Crème de la Crème der Solisten – hervorzuheben Andreas Scholl als Countertenor.
2. Georg Friedrich Händel: Messiah
Noch so ein Banger. Über die leiernde, deutschsprachige Fassung von Karl Richter mit seinem Bach-Chor und Bach-Orchester hab ich schon mal geschrieben. Keine Empfehlung. Aber welche dann? Denn vom Messiah gibt es ja noch mehr Aufnahmen als von Bachs WO, wie wir Kenner seinen Kantatenzyklus abkürzen.
Auch hier probiere ich mich seit Jahren durch, und bin dieses Jahr auf eine – ja! – US-amerikanische Barockunternehmung gestoßen, die sich hinter keiner europäischen verstecken muss: der Cembalist und Dirigent Martin Pearlman hat mit seinem Ensemble Boston Baroque 1992 einen smoothen, (wenn man so will) coolen Messiah aufgenommen, dem es an nichts fehlt. Unaufgeregtes Einsteiger-Ding, das aber auch mit einigen schönes Details fürs Profi-Ohr aufwartet. (Mehr Messiah-Tipps gibt’s beim Klassik-Magazin Rondo.)
3. Heinrich Schütz: Weihnachtshistorie
Okay, jetzt wird’s langsam nerdy. In meiner ersten Hausarbeit überhaupt verglich ich Schützens Weihnachtshistorie mit Bachs Weihnachsoratorium, um zu zeigen, wie bzw. wo sich Letzterer an Ersterem orientiert hatte. Dadurch kam ich überhaupt erst auf das Werk, dem man anhört, dass es mehr als ein halbes Jahrhundert älter ist als sein Leipziger Nachfahre. Und zusätzlich war Schütz damals bereits ein Dreivierteljahrhundert alt. Aber ich finde ja, it’s not a bug, it’s a feature! So klang Weihnachtsmusik kurz nach dem Dreißigjährigen Krieg. Eine Zeitreise, die man am besten mit – schon wieder! – René Jacobs und dem Concerto Vocale antritt.
4. Johann Friedrich Agricola: Weihnachtskantaten
Wir bleiben im Nerdigen – keine Sorge, gleich wird’s wieder ein bisschen gefälliger. Bei Komponisten wie Agricola, besticht mich beim Nachlesen auf Wikipedia immer, wie vielfältig sie gewesen sind: Jurastudium in Leipzig, Klavier-, Orgel- und Kompositionsunterricht bei Bach und zehn Jahre später (1751) Kammermusiker und Hofkomponist Friedrichs II. Als solcher komponierte er nicht nur neue Stücke und organisierte Privatkonzerte, sondern wirkte auch als Dirigent, Sänger, Gutachter, Übersetzer, Rezensent, Musikschriftsteller und Musiklehrer. Wow!
Damals entstanden auch drei Weihnachtskantaten, die ich jedem ans Herz legen möchte, der an akutem Jauchzet, frohlocket“-Overkill leidet, und zwar in der frischen Aufnahme von Michael Alexander Willens mit der Kölner Akademie. Die Pauken und Trompeten katapultieren euch direkt ins Weihnachtsfeeling!
5. Pastorale
Dieses Doppelalbum ist ein Kleinod. Ich hab es erst dieses Jahr entdeckt, und mir gefällt alles daran. Die – ja – Blockflötistin und Dirigentin Dorothee Oberlinger, die die Süddeutsche Zeitung gerade zur „Königin“ ernannt hat und die hinter der ganzen Unternehmung steckt. Ihr Ensemble 1700 sowie das italienische Hirtenmusik-Ensemble Li Piffari e le Muse (Video). Die Idee, die Gattung der Pastoralen zu nehmen und daraus ein Weihnachtsalbum zu machen – mit entsprechender Musik, entsprechenden Instrumenten (Drehleier, Dudelsack, Fiedel und Piffero, also Schalmei) und entsprechenden Texten.
Im Klappentext heißt es zum historischen Hintergrund: „Inspiriert wurde Oberlinger von den italienischen Weihnachtsbräuchen der Hirten, die zur Adventszeit aus den Bergen in die Städte nach Rom oder Neapel hinunterkamen und auf ihren traditionellen Instrumenten (…) musizierten. Allgegenwärtig zieht sich die Spur der Hirten auch durch die Musikwelt des Barock.“
Aber wer jetzt denkt, dass hier ein verschrobenes Folk-Album um die Ecke kommt, liegt auch wieder falsch. Denn im Herzen des Machwerks steht weihnachtliche Barockmusik italienischer Komponisten: Corelli, Marcello, Scarlatti, De Langa, Guido und Vivaldi. Obendrauf gibt’s Händel und Pez. Außerdem liest der Schauspieler Matthias Brand Texte von Fanny Lewald, Schriftstellerin und Frauenrechtlerin des 19. Jahrhunderts, und Turi Vasile, Produzent von Fellinis Roma, in denen es um die Pifferari geht – und also um Weihnachten.
BR Klassik resümierte: „Dieses Album ist ideal als Begleitmusik zum Christbaumschmücken – oder als Aufputschmittel gegen die Feiertagsmüdigkeit.“
6. Marc-Antoine Charpentier: Pastorale de Noël
Da, da, da-da-da, da, daaa, daaa … Wenn man so will, sind meine frühesten Erinnerungen an Charpentier Kinder-Cola und Erdnussflips. Denn das war die Verpflegung, die meine Eltern auffuhren, wenn mal wieder Wetten, dass..? im Fernseher lief. Und Wetten, dass..? fing stets mit der Eurovisions-Fanfare an: dem Hauptthema aus dem Präludium des Te Deum von Charpentier.
Noch so ein Typ mit einer spannenden Biografie: Mit Anfang 20 reist er nach Rom, wird Schüler von Giacomo Carissimi, dem damals berühmtesten römischen Komponisten, und kehrt erst fünf Jahre später wieder nach Paris zurück. Dort erhält er Anstellung bei Marie de Lorraine, Herzogin von Guise. Er arbeitet mit Molière zusammen, komponiert u.a. die Musik zu dessen Eingebildeten Kranken. Nach dem Tod seiner Gönnerin, versucht er, beim König unterzukommen, was aber nicht funktioniert. Fun Fact (jedenfalls find ich ihn funny): Zeit seines Lebens hat er 550 Werke verfasst, die im sogenannten Hitchcock-Verzeichnis katalogisiert sind, das natürlich nichts mit dem Regisseur zu tun hat, sondern mit dem US-amerikanischen Musikwissenschaftler, der es anlegte.
Nun aber Charpentiers wunderbare Weihnachtsmusik – sein Nachdenken über die Geburt des Jesuskinds, das er für seine Mäzenin komponierte. (Btw ist das Ensemble Correspondances unter der Leitung von Sébastien Daucé auch ein paar Nachmittage wert – auf YouTube gibt’s dazu tolles Making-of-Material!)
7. Michael Praetorius: Adventsmusiken
Okay, es wird noch mal „speziell“. Noch mal ein Abtauchen in längst vergangene Zeiten. So wie wenn man sich die Musik eines indigenen Volkes anhört. Klänge, mit denen unser Ohr nicht mehr zu 100 Prozent klarkommt. Dann auch noch teils auf einer anderen Sprache – gar einer toten: nämlich Latein.
Lateinisch auch der Name des Komponisten: Praetorius. Der eigentlich Michael Schulheis heißt. Aber wenn man noch mit einem Bein in der Renaissance steht, bei der es bekanntermaßen darum ging, die Antike zu neuem Leben zu erwecken, latinisiert man halt gerne mal rum. Falls ihr euch fragt, warum ihr euch Musik von so jemandem anhören sollt, obwohl ihr euren Stowasser längst via Schwarzes Uni-Brett für 5 Euro vertickt habt: Er gilt als einer der bedeutendsten Komponisten um 1600.
Wem das nicht reicht, der höre sich seine besinnlichen Adventsmusiken an, die Christoph Rademann mit seinem Dresdner Kammerchor auf einem Album versammelt hat (hier auch als Video). Es ist ein Ros ist sie betitelt, nach dem Mysterienlied Es ist ein Ros entsprungen – von dem ich als Kind immer dachte, dass es um ein Ross ginge, was mir noch mysteriöser erschien. Und im Gegensatz zu Amazon-User Hamlet_Danmark – „Häßlich und fast nicht leserlich“ – finde ich auch das Coverdesign toll. Fast schon ECM!
8. Vince Guaraldi Trio: A Charlie Brown Christmas
Was für ein Cut: Von der Renaissance knallhart rüber zur US-amerikanischen Unterhaltungsindustrie der 1960er Jahre! Charlie Brown, die Peanuts, Jazz … Die Fakten zu diesem Album sind nicht unspannend. 1965 erschien der erste Peanuts-Film A Charlie Brown Christmas. Ein Erfolg, sicherlich nicht zuletzt auch wegen der Musik. Vince Guaraldi hatte für den Film Weihnachtsklassiker wie O Tannenbaum und Hark, the Herald Angels Sing verjazzt und mit seinem Trio eingespielt. Im selben Jahr noch erschien das dazugehörige Album; Billboard kürte es 2022 zum besten Weihnachtsalbum aller Zeiten. Die Arrangements sind unaufgeregt, geradezu unspektakulär, dafür aber on point und elegant. Man hört ihnen ihr halbes Jahrhundert zu keinem Zeitpunkt an. Ein Soundtrack perfekt für den Brunch mit der Patchwork-Familie am Ersten Weihnachtsfeiertag.
P.S.: Wer einen Plattenspieler hat, sollte sich unbedingt die schöne, grüne Vinyl zulegen.
9. Diana Krall: Christmas Songs
Bei manchen Dingen – Essen, Trinken, Bücher, Musikalben – weiß man nicht, ob sie gut oder schlecht sind, weil sie sich mit zu viel Biografie vermischen. Sie sind untrennbar mit Schlüsselerlebnissen verbunden, mit wichtigen Lebensphasen, mit Existentiellem. So wird aus billigem Montepulciano D’Abruzzo plötzlich der kostbarste Wein der Welt, ein kitschiger Film wird Oscar-Preis-verdächtig, ein Song zur Hymne des eigenen Lebens. Diana Krall ist für mich so ein Fall. Ich weiß nicht, wie gut ich sie wirklich finden soll. Ich weiß nur, dass sie mich vor 20 Jahren, als ich anfing, Jazz zu hören, beeindruckte und mitriss. So schön, so rau, so selbstbewusst.
Auf der Live-DVD ihres Paris-Konzerts sah man ihr an, dass sie unzählige Abende und Nächte in verrauchten Jazzkellern gespielt hatte, bevor sie an den Steinway jener großen Bühne gelassen wurde. Wer das üppige Weihnachtsmahl gern mit einem guten Whiskey und/oder einer Kippe auf dem Balkon verdaut, der findet in Diana Kralls Christmas Songs die richtige Begleitmusik dafür.
10. Pantha du Prince: Black Noise
Nein, dieses Album ist streng genommen kein Weihnachtsalbum, denn der Produzent und Komponist Pantha du Prince hat darauf weder Jingle Bells noch O Tannenbaum zu Techno-Tracks verarbeitet. Stattdessen zog er sich Ende der 2000er Jahre in Schweizer Wälder und Landschaften zurück und zeichnete dort Klänge auf, aus denen er später in seinem Studio klirrende Wintermusik klöppelte. „Alpinen Eiskristalltechno“ nannte die SPEX das 2010. Glockensounds, knirschender Schnee …
Dieses Album funktioniert auch noch am 1. Januar, wenn ihr nach einer rauschhaften Silvesterparty irgendwann gegen 11 Uhr aufsteht, den Kater in eurem Kopf begrüßt, dem Chaos in der Wohnung Hallo sagt, auf den Balkon raustretet und die kalte, frische Luft des neuen Jahres in eure Lungen einsaugt.
Das war’s schon wieder. Und wie immer würde ich mich freuen, wenn ihr meinen Newsletter weiterempfehlt. Vielleicht kennt ihr ja jemanden, der dringend bessere Weihnachtsmusik braucht – oder ihr schickt dieses Posting euren Eltern mit dem Hinweis „An Weihnachten bitte diese Musik auflegen. Danke!“.
Und falls es euch zu anstrengend ist, die einzelnen Alben anzuklicken: Hier ist die ultimative BELETAGE-Weihnachts-Playlist mit all der Musik, die ich vorgestellt habe:
Und falls ihr immer noch Viel Spaß beim Hören, besinnliche Tage und frohe Weihnachten euch allen! Ich meld mich vielleicht noch mal vor Silvester mit einem kleinen Jahresrückblick.
P.S., falls ihr noch Weihnachtsgeschenke braucht: Hier sind 10 hochwertige Tipps von mir!